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Titel
Nach dem Gefängnis. Alltag und unsichtbare Bestrafungen


Autor(en)
Sieferle, Barbara
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Manuel Bolz, Georg-August-Universität Göttingen

Forschungen zu und in Gefängnissen stagnierten seit Michel Foucaults philosophischen Überlegungen zur Genealogie des Gefängnisses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lange. Erst seit den 1990er-Jahren nahmen Untersuchungen im anglophonen Raum zu.1 Diese Veränderungen sind nun im deutschsprachigen Raum angekommen. In der hiesigen Kulturanthropologie lassen sich ein „punitive turn“ und Bestrebungen einer ethnografisch-kulturanalytischen Gefängnisforschung mit ganz unterschiedlichen Akzentuierungen erkennen zum Beispiel von Hannah Rotthaus zur digitalen Teilhabe in Männergefängnissen, Svenja Schurade zur Kriminalisierung von Migration, Friederike Faust zu Gefängnisgesundheit und gemeinsam mit Klara Nagel zur Geschichte des Frauengefängnisses oder Barbara Sieferle zu Alltagen nach der Haft. Die neue Ethnografie von Barbara Sieferle ist auch der Gegenstand der folgenden Rezension. Die Studie nimmt Formen unsichtbarer Bestrafungen, ihre Verflechtungen mit Vorstellungen von Kriminalität, Gewalt und Geschlecht sowie die Prägekraft und wirklichkeitskreierende Wirkung der Institution Gefängnis auf das Leben nach der Haft in den Blick.

Sieferles zentrale Frage betrifft die Erfahrungen und Wahrnehmungen unsichtbarer Bestrafungen in den alltäglichen Lebenswelten hafterfahrener Männer (S. 159–168). Die Studie wird geleitet von der Beobachtung, dass einige Männer Sieferle gegenüber wiederholt entgegneten: „Die eigentliche Strafe fängt erst nach der Entlassung an“ (S. 9). Dies stellt ein dominantes Deutungsmuster in den Erzählungen der untersuchten Männer dar, von ihnen humoristisch „Haftschaden“ genannt (S. 11). Damit verwiesen die Männer metaphorisch auf die Wirkungen der Haft auf das Leben nach dem Gefängnis. Doch wie sehen diese aus und welche Praktiken des „Stigmamanagements“ (S. 71) entwickeln die Männer, um den Effekten der Haft auf ihr Leben danach entgegenzuwirken? Die Autorin argumentiert, dass sich die Männer in einem Spannungsfeld zwischen Positionen innerhalb und außerhalb des gesellschaftlichen Koordinatensystems bewegen – einer Phase des Übergangs (Liminalität) (S. 42). Dieser Schwellenzustand bringt zum einen Gefühlslagen der (Un-)Sicherheit und Irritationen hervor, produziert auf der anderen Seite aber auch multiple Diskriminierungen und Stigmatisierungen – Momente der „VerAnderung“ (S. 50) in alltäglichen Interaktionen und Kommunikationsformen. Die Markierung der Männer als kriminell lässt sie nur bedingt gesellschaftliche Teilhabe erfahren, auch lange nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe.

Zur Struktur des Buches: Nachdem die Autorin den Ausgangspunkt ihrer Forschung vorgestellt und ihre Schwerpunktsetzung begründet hat, folgt sie den verschiedenen Dimensionen unsichtbarer Bestrafungen in je eigenen Kapiteln: Unsicherheiten und Übergänge (S. 31–59), Rollenzuweisungen (S. 59–81), moralische Positionierungen (S. 81–101), Ökonomien der Not (S. 101–125), einem Überschuss an Zeit (S. 125–141) sowie Zukunftsängste und Hoffnungslosigkeit (S. 141–159). Das Buch endet mit einer Reflexion über die Potentiale und Chancen, aber auch über die Herausforderungen und Grenzen ethnografisch-kulturwissenschaftlicher Gefängnisforschung (S. 169–173).

Mithilfe des kultur- und sozialwissenschaftlichen Zugangs der Feldforschung – teilnehmende Beobachtungen, Interviews und informelle Gespräche in Gefängnissen, Übergangswohnheimen und in der freien Straffälligenhilfe in zwei deutschen Großstädten – untersuchte Sieferle den Alltag hafterfahrener Männer sowie ihr soziales Umfeld (Partner:innen, Bekannte und Familienmitglieder sowie Sozialarbeiter:innen) über neun Monate hinweg. Ihre Studie analysiert zwölf Einzelbiografien, die sie durch einen Kunstgriff in „fiktionalisierte Charaktere“ an „fiktionalisierten Orten“ mit ganz unterschiedlichen Geschichten verdichtet (S. 27–29). Durch die „zusammengesetzten Figuren“ (ebd.) möchte die Autorin zum einen Komplexität auf spezifische Repräsentationsformen (Einzelbiografien) reduzieren, andererseits aber auch Großkonzepte wie Strafen dezidiert mit alltagsweltlichen Wahrnehmungen, Imaginationen und Praktiken verknüpfen. Eine weitere Rolle spielt hier die Forschungsethik (Anonymisierung der Männer und ihrer lebensweltlichen Kontexte).

Die einzelnen Kapitel entfalten sich vor der dem Hintergrund der vielfältigen Herausforderungen, vor denen die begleiteten haftentlassenen Männer stehen: Sie müssen ihren Alltagen eine neue Struktur geben, soziale und ökonomische (Un)Sicherheiten aushalten (lernen), brüchig gewordene Beziehungen reparieren und eine stabile soziale Ordnung in ihrem Umfeld herstellen. Kurz: In den Alltagen der Männer nach der Haft spielen Zeit und Zeitstrukturen sowie der Wunsch nach ökonomischer und sozialer Stabilität eine entscheidende Rolle.

Denn die hafterfahrenen Männer sind nunmehr wieder aktiv Gestaltende ihrer Zeit – selbstbestimmter als die Jahre zuvor – und nun mit mehr Handlungsmacht (agency) versehen. Diese ermächtigende Position ist für viele Männer herausfordernd nach einem so langen Zeitraum der Fremdbestimmung, der Disziplinierung und der Kontrolle, in dem ihnen eigene Interessen und das Bedürfnis nach individueller Zeitgestaltung durch die Strafe eingeschränkt wurde. Gleichzeitig müssen sie erlernen, mit dem häufig durch Arbeitslosigkeit und fehlende soziale Verpflichtungen entstandenen Zeitüberschuss – gerade auch im Gegensatz zu dem Mangel an selbstbestimmter Zeit im Gefängnis und der dortigen minutiöse Überwachung – kreativ und produktiv umzugehen, häufig motiviert von der Imagination besserer Zukünfte (S. 141–158). Dennoch ist der Handlungsradius der Männer durch fehlende soziale und finanzielle Ressourcen eingeschränkt, die oftmals eine gesellschaftliche Teilhabe bedingen (S. 101–140).

Nach der Haft erleben die Männer ökonomische und soziale Instabilitäten. Sie suchen unter anderem Berufstätigkeiten und soziale Kontakte. Die Hafterfahrungen führen dazu, dass die Männer unzählige Bewerbungen für Berufstätigkeiten im Niedriglohnsektor schreiben müssen. Sie erhalten keine Rückmeldungen und werden meist auch nicht zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Ihnen wird, wenn sie denn eine Rückmeldung erhalten, oftmals abgesagt oder müssen lügend ihren Gefängnisaufenthalt verheimlichen (und ständig mit der Angst leben, dass dieser irgendwann bekannt wird und die Männer ihre Arbeit verlieren). Neben diesen existentiellen Herausforderungen wird in Sieferles Studie ebenso deutlich, dass ehemalige Freund:innen und Familienmitglieder den Kontakt abbrechen, Nachbar:innen sich von den Männern distanzieren, über die Männer schlecht gesprochen wird und die Familienangehörigen teilweise ausgegrenzt werden (S. 59–80). Kurz: Stigmatisierung und Diskriminierung fördern soziale Isolation.

Um dieser Isolation entgegenzuwirken, steuern einige Männer nach der Haft spezifische Männerwohnheime an. Die Institutionen stellen eine soziale Infrastruktur dar und fungieren meistens als erste Anlaufstelle. Sie sind häufig die einzige soziale Ressource, bieten eine Bleibe und Unterstützung in der Bewältigung des Alltags (Schlafen, Kochen, Hobbies usw.). Dies führt jedoch nicht dazu, dass sich die Männer weniger einsam fühlen. Auch innerhalb der dort lebenden Gruppe gibt es soziale und symbolische Abgrenzungen zum Beispiel über die Bewertung der individuellen Straftaten. Gleichzeitig müssen die hafterfahrenen Männer lernen, mit dem Stigma des ehemaligen Gefängnisinsassen umzugehen und sich sowohl gegenüber staatlichen und sozialen Institutionen wie den Bewährungshelfer:innen als auch in Alltagsgesprächen (ebenso gegenüber anderen ehemaligen Inhaftierten) als moralisch gut und vor allem gebessert zu positionieren (S. 81–100). Dies betrifft die aktive Distanzierung von ihrem früheren, inhaftierten und in dieser Logik unmoralischen Selbst.

Auch wenn die Männer unterschiedliche Erfahrungen besitzen und Lebenswege bestritten haben, vereint sie die Orientierung an bürgerlichen Werte- und Normenverständnissen eines „guten“ Lebens („Konsum- und Wohlstandsnormalität“, S. 107) und die Internalisierung konservativer Männlichkeitsvorstellungen und scheinbarer Ideale wie zum Beispiel Durchhaltevermögen oder die Figur des „starken Ernährers“. Die Männer navigieren durch unsichere private und öffentliche Räume. Sie sind stets wachsam: An sie wird die Handlungserwartung herangetragen, weitere Straftaten zu vermeiden, soziale Kontakte mit Partner:innen, anderen Familienmitgliedern oder Freund:innen zu reaktivieren und zu halten, eine Berufstätigkeit zu finden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und gegebenenfalls ihre Familien zu versorgen und sich gleichzeitig selbst zu verwirklichen. Dies schließt zum Beispiel eine sinnstiftende Freizeitgestaltung (unter anderem S. 49) mit ein. Das Ideal, ein „normales“ Leben zu führen, ist für hafterfahrene Männer demnach handlungsleitend.

Im Mittelpunkt der Studie stehen – ganz im Sinne ethnografischer Forschungen – die detailliert beschriebenen und analytisch ausdifferenzierten multiplen Alltagserfahrungen von Männern und Männergruppen. Deutlich wird Sieferles kontinuierliche Reflexion ihrer Rolle als Wissenschaftlerin, als Frau und als Person, die keine Gefängniserfahrungen, dafür aber Freiheiten und durch ihre Verortung in der Wissenschaft und der gesellschaftlichen Zuschreibung dieser Berufstätigkeit Privilegien besitzt. Dazu gehört beispielsweise, dass Sieferle in vielen Räumen willkommen ist wie zum Beispiel ein Café in Gefängnisnähe, die hafterfahrenen Männer aber eher nicht (S. 110). Auch, ob Äußerungen vom Gegenüber als „wahr“ oder „falsch“ gedeutet werden, ist durch die eigene Positioniertheit geprägt. Gleichzeitig betont Sieferle die Verantwortung von ethnographisch Forschenden, der Reproduktion von Stereotypisierungen, Vorurteilen und Stigmatisierungen entgegenzuwirken, etwa indem sie dafür Sorge tragen, dass komplexe Themen in nicht nur verständliche, sondern auch angemessene Repräsentationsformen heruntergebrochen werden.

Auch wenn Lesende die sozialen Kontexte, die (intimen) Wünsche, das Leiden und die Erfahrungen ausgewählter hafterfahrener Männer kennen lernen, bleibt der Grund der Inhaftierung vage. Sieferle hat sich bewusst dafür entschieden, die Straftaten nicht in den Blick zu nehmen. An dieser Stelle lässt sich danach fragen, ob dieser Aspekt nicht wichtig dafür ist, um das Handeln, die Wahrnehmungen und Deutungen der hafterfahrenen Männer und den Stellenwert der Straftat in den lebensweltlichen Kontexten zu verstehen. Oder macht Sieferle durch das bewusste Weglassen auf die Gefahr eines voyeuristischen Blicks im (ethnografischen) Forschen und Arbeiten in Feldern um Kriminalität und Kriminalisierung aufmerksam?

Neben der Frage nach den Inhalten dichter Beschreibung, die hier nicht abschließend diskutiert werden kann, hätte ich mir als lesende Person weitere Informationen zu Sieferles konkreten Feldzugängen gewünscht: Wie gestaltete sich die Kontaktaufnahme mit den Männern und welche Herausforderungen gab es zu Beginn der Forschung, als die sozialen Verbindungen zwischen Forscherin und hafterfahrenen Männern vielleicht noch nicht gefestigt waren? Und wie sieht/sah ihr Feldaustritt aus? Wieso wählte die Autorin eine deutsche Großstadt aus und nicht zum Beispiel Gefängnisse in ländlichen Regionen? Was sagt der Forschungsstand bzw. existieren Leerstellen in der Erforschung des geschlechtsspezifischen Navigierens in einem „post-prison-life“ in Deutschland, gerade auch im Vergleich zu anderen europäischen Kontexten?

Barbara Sieferles Studie zeigt eindrücklich die Relevanz und Aktualität ethnografischer Forschung zur Rolle und Wirkmacht der Konsequenzen von Strafe in gegenwärtigen Gesellschaften. Ihre Ethnografie kann auch als Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden werden. Dabei stehen die Haft selbst und der Aufenthalt im Gefängnis eher im Hintergrund. Es sind die Erfahrungen und Aushandlungen nach der Haft, welche unsichtbare Bestrafungen mit sich tragen und die Akteure in ihren Lebenswelten beeinflussen. Sieferles Studie liefert darüber hinaus Antworten zu Fragen nach intersektionalen Verflechtungen von Geschlecht, Sexualität, class, Herkunft und Raum in deutschsprachigen Kontexten.

Sieferle nutzt die Methode, den Zugang und die Repräsentationsform „Ethnografie“ dafür, eine Kritik an bestehenden institutionellen und gesellschaftlichen Zuständen zu formulieren, gerade auch mit Blick auf die durch die Männer artikulierten (Gewalt-)Erfahrungen, die sich trotz der unterschiedlichen biografischen Kontexte ähneln (S. 169–172). Nicht nur die Hafterfahrung selbst, sondern vor allem das Leben nach der Haft, das durch ein dominantes Resozialisierungsparadigma geprägt ist, sollte vermehrt in den Mittelpunkt gesellschaftspolitischer, sozialer und kultureller Debatten und politischer Bühnen gerückt werden. Sieferles Studie kann deshalb, so lässt sich resümieren, als ein Plädoyer verstanden werden: Eine kritische Kulturanthropologie bereitet nicht nur (Alltags-)Wissen auf, ergänzt es und macht es zitierfähig, sondern zeichnet gesellschaftliche Missstände, Problemlagen und sich im Werden befindende Formationen nach.2

Durch den klaren Aufbau und eine zugängliche Sprache ist das Buch nicht nur für alle Gefängnisforschenden, haftentlassenen Menschen und in der Straffälligenhilfe Tätigen interessant, sondern eignet sich durch die präzise Theorie-Empirie-Verknüpfung und die Reflexion der eigenen Forscher:innenrolle ebenso hervorragend als Lektüre für Studierende und andere Nachwuchsforschende der Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften.

Anmerkungen:
1 Vgl. Loïc Wacquant, The curious eclipse of prison ethnography in the age of mass incarceration, in: Ethnography 3,4 (2022), S. 371–397.
2 Vgl. Paul Rabinow, Marking Time: On the Anthropology of the Contemporary, Princeton 2007.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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